Dies ist ein Schreiben meiner teuren Freundin Deniz Erkmen, ihre persönliche Geschichte, über die jüngste soziale Protestbewegung (Occupy Gezi). Wenn ihr immer noch daran interessiert seid, was in Istanbul passiert (naja, mittlerweile in der ganzen Türkei), lest bitte weiter!
Vielen vielen Dank für eure Unterstützung!
WENN ES KEINEN ANDEREN WEG ALS WIDERSTAND GIBT!
Ein persönlicher Bericht über die ersten Tage von OccupyGezi
Deniz Erkmen
Zu Hause in Istanbul korrigiere ich Klausuren und versuche die laufenden Updates auf Facebook über die Ereignisse zu verfolgen. Ich habe immer mehr und mehr Angst, das Haus zu verlassen. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, mich zu konzentrieren. Ich lese ein paar Zeilen einer Klausur, halte inne und überlege „Habe ich Essig zu Hause?“. Ich lese ein paar Zeilen weiter, halte inne und frage mich „Verkauft die Apotheke Gasmasken?“ Unfähig, länger still zu sitzen, rufe ich ein paar Freunde an, simse ihnen und schreibe ihnen auf Facebook. Zuerst einem Meeresbiologen, dann einem Geschichtsstudenten, dann einem Filmemacher und einem Umweltingenieur… Alle haben vor, zum Taksim-Platz zu gehen. Ich packe etwas Essig und ein Halstuch in meinen Rucksack. Ich achte darauf, dass ich Turnschuhe trage, so dass ich schnell rennen kann und verlasse das Haus, ohne genau zu wissen, was mir bevorsteht.
Am Hafenterminal grüße ich einen Freund, der gerade von einem Meditations-Workshop kommt. Aslı und ich haben uns ursprünglich in einem Yoga-Kurs kennengelernt. Vor einem Monat waren wir zusammen in einem Yoga-Zentrum auf einem kleinen friedlichen grünen Campingplatz am Mittelmeer. Wir schauen einander an, halb beunruhigt, halb lächelnd. Das Leben ist tatsächlich seltsam. Mir fällt auf, dass ihr Freund Flip-Flops trägt. Mir geht durch den Kopf „Wer würde auf solch einer Demonstration Flip Flops tragen?“ Doch das passiert, wenn junge Schriftsteller, Yoga-Lehrer und Filmemacher an einem Aufstand teilnehmen. Wir haben noch nicht soviel Erfahrung, wenn es darum geht, auf den Straßen gegen die Polizei zu kämpfen. Das war bis jetzt nicht wirklich unser Fall. Doch in den nächsten paar Tagen werden wir unsere Lektion bekommen.
Meine Generation, Leute, die Mitte der 70er bis 90er Jahre in der Türkei geboren wurden, wurden kategorisch über ihre unpolitische Haltung definiert. Zur Zeit des Militärputschs, als viele Aktivisten inhaftiert und brutal gefoltert wurden, und danach geboren, wurden viele von uns dazu erzogen, solange ihre Familien keine Aktivisten waren, einen Bogen um „Politik“ zu machen. Demonstrationen waren eine gefährliche Angelegenheit in der Türkei und unsere Familien lehrten uns, soweit wie möglich davon fern zu bleiben. Obwohl sich dies mit der Zeit bis zu einem gewissen Ausmaß geändert hat, ist diese Erziehung stark verankert und hat zu gewissen politischen Gepflogenheiten des Vermeidens geführt. Kombiniere das mit dem allgemeinen Misstrauen gegenüber etablierten politischen Institutionen, dem Markenzeichen der postindustriellen Generationen und eines unempfänglichen Systems mit nur wenigen funktionierenden Kanälen, die Beteiligung ermöglichen, und du hast Leute, die nicht sehr positiv über Änderungsmöglichkeiten durch Teilnahme denken.
Doch warum laufen dann all meine Freunde zum Taksim-Platz? Was ist geschehen? Warum sollte jemand wie ich, jemand, der Menschenmengen hasst, jemand, dem es etwas unangenehm ist, Parolen der linken türkischen Parteien zu rufen, jemand, der aus der Stadt flüchtet, wann immer es geht, um klettern zu gehen, warum sollte so jemand Essig und ein Halstuch einpacken und zu einem Platz laufen, wo derjenige ziemlich sicher sein kann, mit Tränengas besprüht zu werden, vielleicht sogar noch schlimmer?
Zu diesem Zeitpunkt habe ich bereits an Aktionen teilgenommen, die unternommen wurden, um den kleinen Park, Gezi Parkı, am Taksim-Platz, dem gesellschaftlichen und politischen Zentrum von Istanbul, zu schützen. Der Park ist vergleichsweise winzig. Ihr dürft nicht an den Central Park oder Hyde Park denken. Er ist wahrscheinlich noch nicht mal ein Zehntel so groß wie diese. Doch es ist der einzige grüne Fleck auf diesem sehr belebten, sehr städtischen Platz. Die JDP-Regierung (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) hat einstimmig beschlossen, den Park mit dem Nachbau einer osmanischen Kaserne in ein Einkaufszentrum zu verwandeln, wenngleich mehrere Einkaufszentren von dort aus zu Fuß zu erreichen oder wenige Metro-Stationen entfernt sind. Es wurden ein Verein und ein Forum zu diesem Thema gegründet und man begann, zu organisieren und Unterschriften zu sammeln, um den Park zu schützen.
Dieser Versuch, den Park zu zerstören, war kein Einzelfall bei dem öffentlicher Besitz für private Bauzwecke übergeben wurde. Es war nur ein Vorfall unter fortlaufenden Angriffen der JDP-Partei, die sich gegen öffentlichen Räume, darunter nicht nur historische Gebäude, öffentliche Plätze und Stadtviertel, sondern auch Wälder und Nationalparks, richteten. Wir wurden Zeugen einer über Jahre fortschreitenden Zerstörung.
Erst vor wenigen Monaten wurden unter Protesten eine beliebte Konditorei in einem historischen Gebäude geschlossen und ein geschätztes Kino abgerissen, weil sie sich in einem historischen Gebäude befanden, das verkauft wurde, um in ein Einkaufs- und Erlebniscenter umgewandelt zu werden. Der erste Spatenstich für die dritte Brücke über den Bosporus, bei der angenommen wird, dass sie der Umwelt enormen Schaden zufügen wird, fand gegen den Widerstand von Bürgerinitiativen und Berufsverbänden statt. Das Gesetz, Nationalparks für Bebauungen freizugeben, wartete nur darauf, im Parlament besprochen zu werden. Wir teilten unsere Bedenken mit Freunden und auf Social-Media-Plattformen, aber witzelten darüber, dass wir mit der Geschwindigkeit der Zerstörung nicht mithalten könnten.
Auch die Art und Weise waren nicht neu: ein großes Stadtprojekt voranzutreiben, welches keine Unterstützung seitens der Öffentlichkeit hat und welches keinen Sinn aus der Sicht des öffentlichen Dienstes oder der Städteplanung macht, ohne jegliche Beachtung von Einwänden seitens der Zivilbevölkerung. Tayyip Erdoğans Lesart von „Demokratie“ besagt, dass, seitdem er gewählt wurde und die Mehrheit im Parlament hat, er machen konnte, was immer er wollte und wie auch immer er es wollte.
Der Regierungsstil war bezeichnend für eine zunehmend autoritäre und arrogante JDP-Partei, die im Alleingang eine konservative und neoliberale Agenda durchdrückte. Einerseits gab es immer wieder eine Reihe von Maßnahmen, die erlassen wurden und Angst darüber schürten, dass der Staat in Leben und Wahlmöglichkeiten der Leute eingriff. Es wurde diskutiert, Abtreibungen zu verbieten und man hörte Geschichten darüber, wie Frauen, die gekommen waren, um abzutreiben in öffentlichen Krankenhäusern misshandelt wurden. Der Regierungschef forderte anschließend von Familien, drei Kinder zu haben. Das Bildungssystem wurde mit dem Ziel überarbeitet, eine „religiöse Generation“ großzuziehen. Alkoholkonsum wurde zwischen 10 Uhr abends und 6 Uhr morgens verboten, genauso wie Werbung über Alkohol verboten wurde. Das Bewusstsein darüber, dass die Regierung versuchte, einen bestimmten Lebensstil zu propagieren und die Bevölkerung in ein konservative Gussform einzupassen, stieg an.
Andererseits bestand nicht nur das Problem, dass wir Angst um unsere Art zu leben hatten. Es sah auch danach aus, dass der Regierungschef diese Eingriffe benutzte, um alle von wichtigen Themen abzulenken und um um seine Anhänger zu buhlen, indem er die Konservativität seiner Partei hervorhob. In der Zwischenzeit verschärften sich die demokratischen Defizite der Türkei einfach immer weiter. Die Türkei wurde das Land mit der höchsten Anzahl an inhaftierten Journalisten auf der Welt. Die Massenmedien wurden zum Schweigen gebracht und die Justiz wurde zum Verbündeten der Exekutive. Es gab keine Möglichkeit, sich der JDP zu widersetzen. Letztens, am 11. Mai, gab es einen Bombenanschlag in Reyhanlı, einer Stadt an der syrischen Grenze, welche sich aufgrund des Bürgerkriegs in Syrien und der Unterstützung oppositioneller Kräfte seitens der türkischen Regierung schon in einer angespannten Lage befindet. 51 Personen wurden getötet und Regierung reagierte mit einem Verbot medialer Berichterstattung über Reyhanlı. 51 Tote, 140 Verletzte, und wir konnten darüber nicht einmal in den Zeitungen lesen.
Als dies geschah, wurden die Leute um mich herum immer frustrierter. Wir witzelten unter Freunden, dass wir es nicht schafften, am Morgen die Zeitung zu lesen, weil wir zu depressiv wurden, um zur arbeiten, und wie wir es nicht schafften, sie nachts zu lesen, weil es unseren Schlaf raubte. Ich fühlte mich, als ob ich von der zunehmend konservativen und autoritären Politik der JDP in die Ecke gedrängt wurde und als ob ich keinen Platz zum leben und atmen in diesem Land hatte. Es fühlte sich an, als ob ich erstickt würde. Erstickt in dieser einst majestätischen Stadt, wo ich geboren wurde und aufgewachsen war, deren Straßen ich jahrelang entlanggegangen war. Immer mit der Angst, dass irgendein Gebäude, irgendeine Straße oder irgendein Naturgebiet in anderen Teilen des Landes, das ich liebte und schätzte, zerstört werden würde. Sprachlos, machtlos. Ich fühlte mich hilflos und war nicht nur auf die Regierung sondern auch auf meine Hilflosigkeit wütend. Gezi Parkı war wie eine Ecke, in die wir gedrängt wurden. Es war die letzte Ecke. Sie war klein, doch wir konnten kämpfen, um sie zu schützen.
So verfolgte ich die Aktivitäten auf dem Taksim-Podium. Ich versuchte, darüber in sozialen Netzwerken zu informieren. Dann, letzte Woche am 27. Mai erreichte uns die Nachricht, dass die Regierung Bulldozer geschickt hatte, um mit dem Bau zu beginnen. Eine kleine Gruppe stoppte die Bulldozer und am 28. Mai versuchte die Polizei, sie zu vertreiben. Man organisierte die Gezi Parkı-Wache, so dass einige Aktivisten begannen, im Park zu übernachten, um die Bulldozer abzuwehren. Leute fingen an, zum Park zu gehen, so auch ich. Die Demonstrationen waren am Anfang ziemlich klein. Im Grunde war ich nicht besonders sicher, ob sie überhaupt irgendwann größer werden würden. Wir hatten Spaß. Leute jubelten und sangen. Eine junge, gebildete, farbenfrohe Menge, bestehend vor allem aus Anarchisten, Feministen, Sozialisten, Studenten, der Schwulen/Lesben/Transgender-Bewegung… Es fühlte sich gut an zu wissen, dass wir unser Bestes gaben, um zu zeigen, dass wir uns um unser Anrecht auf diese Stadt sorgten. Ich war aber auch nicht sicher, ob wir außerhalb des Parks irgendeine Unterstützung bekommen würden. Ebenso unsicher war ich darüber, was ich tun würde, wenn die Polizei uns einfach rausschmeißen und den Park abreißen würde.
Doch als am Morgen des 31. Mai die Polizei um 5.00 Uhr den Park stürmte, Demonstranten mit Tränengas besprühte und ihre Zelte niederbrannte, als sie fortfuhr, Leute brutal mit Tränengas und Wasser zu besprühen, sogar während einer Presse-Veranstaltung auf dem Taksim-Platz wenige Stunden später, als eine junge Frau von Tränengaskanistern am Kopf getroffen wurde, da wusste ich instinktiv, dass es kein Zurück gab. Die Frage, zu protestieren oder nicht zu protestieren, stellte sich nicht mehr. Die Brutalität, Arroganz und das Gefühl von Ungerechtigkeit waren so stark und standen uns so ins Gesicht geschrieben, dass es das Fass am Ende zum Überlaufen brachte. Wenn du Leute in die Ecke drängst und sie immer weiter angreifst, sind sie irgendwann gezwungen zurückzuschlagen. Es gibt einen Punkt, an dem politischer Protest nicht nur Meinungsäußerung sondern auch Verteidigung ist.
Was danach passierte, war einfach unglaublich. Jene Nacht konnten wir schon auf der Fähre das Tränengas riechen, das mit dem Wind vom Taksim-Platz herüberwehte. Wir hatten Angst, aber wir wussten, was wir zu tun hatten. Wir schlossen uns anderen an, die aus allen Richtungen kamen, als wir mit Tausenden von Menschen in Cihangir hoch zum Sıraselviler liefen, Leute, die, wie soll ich sagen, sehr gewöhnlich aussahen. Sie hatten ihren Arbeitstag beendet, verließen ihre Büros und trafen Freunde. Sie waren frustriert über die Brutalität und über das Gefühl, dass ihre Leben, ihre Wahlmöglichkeiten und ihre Meinung nicht zählten. Sie waren frustriert über die Arroganz des Regierungschefs. Sie waren es leid, sich hilflos zu fühlen. Sie wollten atmen, in Freiheit leben.
So liefen und sangen sie, in Verbundenheit. Freunde von mir kamen jene Nacht aus verschiedenen Richtungen zum Taksim-Platz und wir hatten alle ähnliche Geschichten zu erzählen. Geschichten über partnerschaftliches Verhalten und Freundlichkeit inmitten von Chaos. Es war beängstigend, aber unglaublich aufbauend. Sind alle Straßenaufstände gegen Polizei so freundlich? Diese Demonstranten sagten „Entschuldigung“, wenn sie gegeneinander stießen, während sie vor den Tränengaskanistern davon liefen.
Sie teilten ihr Essen und Wasser, sprühten sich gegenseitig die vom Tränengas brennenden Gesichter mit hausgemachten Mixturen aus Antihistaminen und Wasser ein, stützten sich gegenseitig, riefen „keine Panik“, während sie versuchten, unter dem Tränengas-Feuer ruhig zu bleiben und gemeinsam Barrikaden zu errichten. Leute öffneten ihre Türen und ließen Fremde herein. Ältere Menschen riefen Worte der Unterstützung von Fenstern zu und gaben den Demonstranten Zitrone, Milch und Essig (um gegen die Auswirkungen des Tränengases anzukommen). Ich fühlte, dass die Leute von Istanbul, die sich in der Öffentlichkeit normalerweise anknurren und mit den Zähnen knirschen, die sich mit Ellbogen ihren Weg in und aus öffentlichen Verkehrsmitteln bahnen, begriffen haben, dass sie im Grunde in der gleichen Stadt leben, dass sie sich im Grunde gegenseitig helfen und kooperieren können… So war das Gefühl, ein Moment von Erleuchtung: ja, wir leben in der gleichen Stadt. Ja, wir haben das Recht, als menschliche Wesen mit Würde zu leben. Und ja, wir schaffen das.
Ich bin ziemlich sicher, dass dies ein Wendepunkt in der politischen Geschichte der Türkei ist. Ein Impulsgeber. Nicht aufgrund dessen, was dabei herauskommen wird. Ich habe keine Ahnung, was bei diesen Protesten herauskommen wird. Ich weiß, dass die Folgen aller Aufstände chaotisch sind. Jene, die am besten organisiert sind, haben die Möglichkeit, diesen Prozess für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und etablierte Verhaltensweisen und Gewohnheiten werden nicht so schnell verschwinden. Außerdem wird viel von dem Regierungschef abhängen, dessen Reaktion bis zu diesem Moment einfach unfassbarer- und ärgerlicherweise kompromisslos war. Er verwandelt sich selbst vor unseren Augen in einen Diktator und provoziert seine Anhänger in sehr gefährlicher und unverantwortlicher Art und Weise. Wer weiß also, was geschehen wird? Ich kann nicht behaupten, voller Hoffnung zu sein. Wenn die Dinge von nun an den Bach runter gehen, kann es auch viel Enttäuschung geben.
Doch ich glaube, dass das, wovon wir in den letzten Wochen Zeuge geworden sind, ein Bruch mit politischen Traditionen in der Türkei war. In der jüngsten türkischen Geschichte gab es nichts Vergleichbares, bei dem soviele Menschen aus verschiedenen Ecken freiwillig und spontan auf die Straße gegangen sind und kooperierten, nebeneinander standen und gemeinsam Widerstand leisteten. Das war eine riesige Lernerfahrung für all diese „unpolitischen“ Berufstätigen und Jugendlichen, die aus erster Hand sahen und erfuhren, dass, wenn sie solidarisch handeln, und sie haben solidarisch gehandelt, diese Sozialisten, Säkularisten, Fußball-Fans, Feministen, Kurden, dass sie etwas erreichen können. Dass Solidarität und Kooperation Freude machen, wenn du gegen Ungerechtigkeit kämpfst. Dass sie tatsächlich ihre größten Werte, ihren Witz, ihre Kreativität und Liebe, gegen polizeiliche Brutalität nutzen können. Wir sind endlich auf die Straße gegangen und haben endlich keine Angst mehr oder fühlen uns hilflos. Jetzt sagt sogar meine drei Jahre alte Nichte, dass sie rausgehen und sich am Widerstand beteiligen will. Das gibt mir etwas Hoffnung.
Autor: Deniz Erkmen (Blog „İnsalik Hali„)
Quelle: http://defnesumanblogs.com/2013/06/07/resist-istanbul-a-personal-story/
Übersetzung von: Anne-Kristin Fischer
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