Kreativität gedeiht in einer nicht kontrollierenden, nicht wertenden Umgebung
Veröffentlicht am 16. Oktober 2012 von Peter Gray in Freedom to Learn
In meinem letzten Artikel ging es um Hinweise darauf, dass die kindliche Kreativität in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten nachgelassen hat. In diesem Zeitraum wurde das Leben von Kindern sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schule immer stärker von erwachsenen Autoritäten kontrolliert und reguliert. Hier gibt es weitere Hinweise darauf, dass Freiheit – und dazu gehört auch die Freiheit, nicht beurteilt zu werden, wenn man nicht um ein Urteil gebeten hat – für das Wachsen und Gedeihen von Kreativität eine essenzielle Rolle spielt.
Eine nicht wertende Erziehung mit wenigen Vorschriften ist ein Vorbote für kindliche Kreativität. Längsschnittstudien zeigen, dass Kinder, deren Eltern ihnen relativ wenig Vorschriften machen und ihr Verhalten kaum bewerten, später kreativer sind als Kinder, deren Eltern dazu neigen, viele Vorschriften zu machen und sich wertend zu verhalten. Im Rahmen einer klassischen Studie in den 70er und 80er Jahren untersuchten David Harrington, Jeanne Block und Jack Block bei den Eltern von 106 Kindern im Vorschulalter (3,5 bis 4,5 Jahre alt), welche Einstellungen sie zum Thema Erziehung hatten und welche Erziehungsmethoden sie verwendeten. Als die Kinder in der 6. und später in der 9. Klasse waren, bat das Team ihre Lehrer, einzuschätzen, ob verschiedene Eigenschaften auf die Kinder zutrafen, die auf Kreativität hindeuteten. [1]
Als die Kinder im Vorschulalter waren, bewerteten die Forscher die Stärke der elterlichen Kontrolle bei Interaktionen zwischen Eltern und Kind im Labor. Außerdem baten sie die Eltern, ihren Erziehungsstil mit Hilfe einer Q-Sortierung zu beschreiben. Aussagen wie die folgenden wurden als Beispiele für einen nicht kontrollierenden, nicht wertenden Stil angesehen:
-Ich respektiere die Meinung meines Kindes und ermutige das Kind, sie auch auszudrücken.
-Meiner Meinung nach sollten Kinder Zeit zum Nachdenken, zum Tagträumen und sogar zum Faulenzen haben.
-Ich erlaube meinem Kind, vieles selbst zu entscheiden.
Dagegen wurden Aussagen wie die folgenden als Beispiele für einen kontrollierenden, wertenden Stil angesehen:
-Ich erlaube meinem Kind nicht, wütend auf mich zu werden.
-Ich versuche mein Kind von Kindern oder Familien fernzuhalten, deren Vorstellungen oder Werte sich von unseren unterscheiden.
-Ich erlaube meinem Kind nicht, meine Entscheidungen in Frage zu stellen.
Jahre später sollten die Lehrer das kreative Potenzial der Kinder einschätzen und dabei Aussagen wie die folgenden beurteilen:
-Bringt einfallsreich Aktivitäten in Gang.
-Ist neugierig, forscht, will neue Erfahrungen machen.
-Ist ein interessantes, faszinierendes Kind.
-Beschäftigt sich sehr intensiv mit seinen/ihren Aktivitäten.
-Möchte unabhängig und autonom sein
-Ist selbstsicher, zuversichtlich.
Die Ergebnisse waren sehr aussagekräftig. Als die Kinder im Teenageralter waren, zeigten den Einschätzungen der Lehrer zufolge diejenigen mit nicht kontrollierenden, nicht wertenden Eltern weit mehr kreatives Potenzial als diejenigen mit stärker kontrollierenden und wertenden Eltern.
Die Aussicht auf eine Bewertung hemmt die Kreativität
Die Psychologin Teresa Amabile hat in zahlreichen Experimenten, die sie größtenteils am privaten Forschungsinstitut Brandeis University in Massachusetts durchführte, untersucht, unter welchen Bedingungen Kreativität zu- oder abnahm. Typischerweise forderte sie bei einem solchen Experiment die Teilnehmer – manchmal Kinder, manchmal Erwachsene – auf, etwas Kreatives zu schaffen. [2] Je nach Experiment konnte das eine Collage, ein Haiku oder eine Kurzgeschichte sein. Dann ließ sie die Ergebnisse von einer Expertengruppe auf ihre Kreativität hin beurteilen. Obwohl Kreativität schwer zu definieren ist, ist sie offenbar nicht allzu schwer zu erkennen. Die Urteile der Richter waren recht konsistent, obwohl die Richter ihre Bewertungen völlig unabhängig voneinander vornahmen. Im Allgemeinen betrachteten die Richter Produkte als kreativ, wenn sie originell und überraschend, aber gleichzeitig zufriedenstellend, aussagekräftig und kohärent waren. Originelle, aber willkürlich zusammengestellte Produkte wurden nicht als kreativ angesehen.
Bei manchen der Experimente sagte Amabile einigen Teilnehmern, dass die Kreativität ihrer Schöpfungen von einer Expertengruppe beurteilt werden solle. Einigen Teilnehmern sagte sie auch noch, ihr Produkt solle bei einem Wettbewerb eingereicht werden und die kreativsten Teilnehmer würden einen Preis erhalten. Anderen sagte sie nichts über Bewertungen oder über Konsequenzen eines kreativen oder nicht kreativen Verhaltens.
Die Ergebnisse der Experimente waren recht konsistent. Bei einem Experiment nach dem anderen waren die kreativsten Teilnehmer diejenigen, die nicht wussten, dass eine Bewertung ihrer Schöpfung stattfinden würde. Diese Teilnehmer spielten nur und machten sich keine Gedanken über Bewertungen oder Belohnungen.
Bei körperlich anstrengenden Aufgaben, etwa beim Heben schwerer Lasten, und bei mühsamen Aufgaben, etwa dem Zählen von Erbsen, leisten wir mehr, wenn wir bewertet werden. Aber bei Aufgaben, die Kreativität, neue Einsichten oder neues Lernen erfordern, leisten wir mehr, wenn keine Bewertung stattfindet – wenn wir nur spielen, nicht unter Stress stehen, nicht an Versagensängsten leiden. Wer bewertet wird, strengt sich im Allgemeinen mehr an (denn wir wollen die Person, die uns bewertet, beeindrucken), aber Anstrengung allein reicht nicht aus, um kreativ zu sein. Man kann nicht kreativer werden, indem man sich einfach mehr Mühe gibt. Um kreativ zu sein, muss man sich selbst Raum geben, und zwar auf eine Weise, die die volle Entfaltung bestimmter unbewusster geistiger Prozesse zulässt. Durch diese Prozesse entstehen ungewöhnliche Assoziationen und neue Ideen. Die unbewussten Prozesse funktionieren am besten, wenn man spielt, statt sich um Lob oder eine andere Belohnung zu bemühen.
Zwei gegensätzliche Geisteshaltungen: verspielt und gestresst
Aufgrund umfassender Forschung zu den Auswirkungen von Emotionen auf die Leistungsfähigkeit hat die Psychologin Barbara Fredrickson eine Theorie entwickelt, die sie die „Broaden-and-Build-Theorie (etwa: Erweiterungs- und Aufbautheorie) positiver Emotionen“ nennt. [3] Ihrer Theorie zufolge erweitern positive Emotionen unsere Wahrnehmung und unsere Gedanken und erlauben uns so, Dinge zu sehen, die wir früher nicht bemerkt haben, und Ideen und Informationen auf neue, kreative, nützliche Arten zu kombinieren. Dagegen schränken Fredrickson zufolge negative Emotionen unsere Wahrnehmung und unsere Gedanken ein – vor allem so, dass wir uns auf den Stimulus konzentrieren, der die Emotion ausgelöst hat: den furchterregenden Tiger, den verhassten Feind, die Person, die uns bewertet, oder die negativen Folgen, wenn wir versagen.
Diese Formen der Wahrnehmung und des Denkens sind beide nützlich. Beide sind Ergebnisse der natürlichen Auslese. Wenn unser Überleben nicht unmittelbar bedroht ist, nutzen wir unseren Geist, um uns und unsere Mitmenschen „aufzubauen“ – um zu lernen, schöpferisch tätig zu sein, neue Methoden zu entdecken, einander zu helfen. Wenn wir dagegen einer direkten Bedrohung gegenüberstehen, ist es ganz natürlich, dass wir unseren Verstand nutzen, um uns davor zu schützen. Wer von einem Tiger verfolgt wird, sollte eine Fluchtmethode verwenden, die er erlernt hat oder die er gewohnt ist. Er sollte sich keine kreativen neuen Fluchtmethoden ausdenken. Bei kreativem Verhalten besteht immer die Gefahr zu versagen. Daher sind wir biologisch so angelegt, dass wir unsere Kreativität „abstellen“, wenn ein Versagen schlimme Konsequenzen haben könnte.
Eine Bewertung, um die man nicht gebeten hat und die Konsequenzen hat (wie etwa in der Schule), ist eine Bedrohung. Sie schränkt einen geistig ein und hemmt „aufbauende“ Vorgänge. Sie behindert neues Lernen, neue Einsichten und kreatives Denken – genau die Prozesse, die Schulen nach Meinung mancher Menschen fördern sollen.
Mir gefällt Fredricksons Theorie, aber ich nenne sie lieber „Broaden-and-Build-Theorie des Spiels„. Nach meinem Verständnis deuten die Forschungsergebnisse darauf hin, dass die positiven Geisteszustände, durch die wir unseren Verstand erweitern und Aufbauarbeit leisten können, spielerische Zustände sind. Es liegt in der Natur der Verspieltheit, dass wir in diesem Zustand keine Furcht vor einem Versagen empfinden und uns frei genug fühlen, um neue, kreative Verhaltensweisen auszuprobieren. Beim Spielen erlauben wir unserer Fantasie und unserer Logik, sich zu mischen.
Und deshalb ist es kein Wunder, dass Kinder immer weniger kreativ werden, seit sich Schulen mehr und mehr auf Tests und Bewertungen konzentrieren. Für Kinder, die die Schule ernst nehmen, bedeuten ständige Tests und Bewertungen eine ständige Bedrohung. Ihr Geist konzentriert sich auf diese Bedrohung: Wie komme ich mit diesem Test zurecht? Wie kann ich es diesem Lehrer recht machen? Es ist schwer, unter solchen Bedingungen kreativ zu sein.
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Was denken Sie über all diese Dinge? Wann waren Sie besonders kreativ oder besonders wenig kreativ, und warum? Dieser Blog dient als Diskussionsforum, und ich und andere Leser wissen Ihre Kommentare und Fragen zu schätzen und werden respektvoll darauf reagieren. Wie immer ist es mir lieber, wenn Sie Kommentare und Fragen hier hinterlassen und Sie mir nicht in einer privaten E-Mail schicken. Wenn Sie hier schreiben, teilen Sie Ihre Beiträge mit anderen Lesern und nicht nur mit mir. Ich lese alle Kommentare und versuche alle ernst gemeinten Fragen zu beantworten, wenn ich glaube, eine vernünftige Antwort zu haben. Wenn Sie etwas zu sagen haben, dass wirklich nur Sie und mich betrifft, können Sie mir natürlich gern eine E-Mail schicken.
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Siehe das neue Buch Free to Learn
Literaturhinweise
[1] Harrington, D. M., Block, J. H., & Block, J. (1987). Testing aspects of Carl Rogers’s theory of creative environments: Child-rearing antecedents of creative potential in young adolescents. Journal of Personality and Social Psychology, 52, 851-856.
[2] Amabile, T. (1996). Creativity in context: update to the social psychology of creativity, Boulder, Colorado: Westview Press. Siehe auch: Hennessey, B., & Amabile, T. (2010). Creativity. Annual Review of Psychology, 61, 569-598.
[3] Fredrickson, B. L. (2001), “The role of positive emotions in positive psychology: The broaden-and-build theory of positive emotions,” American Psychologist, 56, 218-226. Siehe auch: Fredrickson, B. L. (2003), “The value of positive emotions,” American Scientist, 91, 330-335.
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Dr. Peter Gray ist Forschungsprofessor am Boston College und Autor des kürzlich veröffentlichten Buches “Free to Learn“ (Basic Books) und „Psychologie“ (ein Lehrbuch, heute in seiner sechsten Auflage).
Andere Artikel von Peter Gray in Englisch:
www.psychologytoday.com/blog/freedom-learn
Buch in Englisch “Free to Learn”:
www.freetolearnbook.com
Originalartikel in Englisch: https://www.psychologytoday.com/blog/freedom-learn/201210/unsolicited-evaluation-is-the-enemy-creativity
Übersetzung von: Stephanie Laimer
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