Erfahrungen von Kindern mit ADHS und ihrem Wechsel vom herkömmlichen Schulsystem zum Hausunterricht oder Unschooling
Kinder und Eltern bewältigen ADHS ohne herkömmliches Schulsystem besser.
Veröffentlicht am 9. September 2010 durch Peter Gray in „Freedom to Learn” (dt.: Von der Freiheit des Kindes, so zu lernen, wie es möchte).
Vor etlichen Wochen rief ich in meinem Beitrag vom 20. Juli 2010 dazu auf, mir von Kindern zu berichten, bei denen ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) diagnostiziert worden ist und die zu Hause oder alltagsbezogen lernen (Hausunterricht, Unschooling oder „Freeschooling” ). Ich erhielt 28 solcher Berichte und unterwarf sie einer Qualitätsanalyse.
Meine Analyse dieser Berichte zeigt, dass (1) Kinder mit ADHS nach ihrem Abschied vom herkömmlichen Schulsystem keine Medikamente benötigen; (2) sich die ADHS-Symptome nach ihrem Abschied vom herkömmlichen Schulsystem nicht auflösen, die Symptome aber nicht mehr das große Problem wie zuvor darstellen und (3) Kinder mit ADHS zu besonderen Leistungen fähig zu sein scheinen, wenn sie ihre Lernmethode selbst bestimmen dürfen. Im Folgenden werde ich die Berichte weiter ausführen und alle Erkenntnisse vorwiegend mit Zitaten untermauern. Aber hier zunächst einige Zahlen, wer welche Berichte über wen geschrieben hat.
Von den 28 Berichten:
– bezogen sich 19 auf Jungen und 9 auf Mädchen.
– wurden 26 von einem Elternteil geschrieben; die übrigen stammten von den unmittelbar Betroffenen selbst, einem inzwischen 24-Jährigen und einer älteren Schwester der diagnostizierten Person.
– 24 bezogen sich auf Kinder, bei denen in einem offiziellen klinischen Verfahren ADHS diagnostiziert worden war; die übrigen 4 bezogen sich auf Kinder, bei denen medizinisches oder schulisches Personal ADHS vermutete, deren Eltern aber trotz des Erkennens aller ADHS-Symptome keine klinische Diagnostik erstellen ließen. .
– 21 bezogen sich auf Kinder, die ihre Ausbildung in einer herkömmlichen Schule oder zumindest in einem Vorschulkindergarten begonnen hatten und diese dann verließen, die übrigen 7 bezogen sich auf Kinder, die nie eine herkömmliche Schule besucht hatten.
– 21 beschrieben ihren nicht-konventionellen Unterricht als „Hausunterricht”, 5 als „Unschooling” und 2 als “Alternativunterricht” (In einem Bericht wurde eine kleine Privatschule beschrieben als „ähnlich dem Hausunterricht” und in einem anderen als „angelehnt an das Sudbury-Valley-Modell”.)
Und hier nun drei Schlussfolgerungen mit einigen der entsprechenden Zitate.
Schlussfolgerung 1: Die meisten Kinder, die in der Zeit ihres herkömmlichen Schulsystems wegen ADHS behandelt worden waren, benötigten nach ihrem Abschied aus dem herkömmlichen Schulsystem keine Medikamente mehr, und jene, die nie eine herkömmliche Schule besucht hatten, wurden nie medizinisch behandelt.
Forschungsarbeiten haben regelmäßig gezeigt, dass die meisten Kinder mit herkömmlichem Schulbesuch und einer ADHS-Diagnose mit Stimulanzien (Dopamin-Wiederaufnahmehemmer) behandelt werden.[1] Auf diese Umfrage zu ADHS-Kindern abseits des herkömmlichen Schulsystems trifft dies nicht zu. Von den 28 Kindern dieser Umfrage wurden 13 nie Medikamente verabreicht (dies waren meist Kinder, die nie an einer herkömmlichen Schule waren oder sehr bald nach der Diagnose aus einer herkömmlichen Schule genommen wurden), 9 wurden zumindest während ihrer Zeit an einer herkömmlichen Schule medizinisch behandelt, aber nach ihrem Ausscheiden nicht mehr, und nur 6 (21% der gesamten Umfrage) wurden zum Zeitpunkt des Berichts medizinisch behandelt.
Von den sechs Kindern, die zum Zeitpunkt ihres Berichts behandelt wurden, war eines auf Strattera , ein Kind hatte soeben seinen ersten Hausunterrichtstag begonnen und nahm Vyvance (ein Stimulans) und die übrigen vier waren noch auf Stimulanzien, obwohl sie seit einem Jahr und länger zu Hause unterrichtet worden waren.
Hier ist eine Auswahl an Kommentaren zu Kindern, die von herkömmlichen Schulen genommen und bei denen Stimulanzien abgesetzt worden waren. (Jeder Kommentar bezieht sich auf ein anderes Kind. Die in Klammern stehenden Zahlen beziehen sich auf die Nummer des Berichtes in meinen Aufzeichnungen):
• (#13): „Als er in der 3. Klasse einer öffentlichen Schule war, entschieden wir, von Strattera auf Adderall umzusteigen. Wir versuchten unterschiedliche Dosierungen, erreichten aber nicht das, was wir wollten, und probierten daraufhin Vyvanse und Concerta in verschiedenen Dosierungen. Sie schlugen bei ihm einfach nicht an. Es schien eine vorübergehende Verbesserung zu geben oder zumindest eine erkennbare, aber es löste nicht wirklich das Problem. Bei alledem war er vor Angst wie gelähmt, also landeten wir schließlich bei Prozac. … Für uns Eltern war es nicht gerade das, was wir haben wollten, ein tablettenabhängiges Kind, nur damit es in der Schule blieb. … Täglich musste er die Klasse verlassen, weil er den Unterricht störte, lärmte, die Lehrer unterbrach, darum bat, den Klassenraum verlassen zu dürfen. Er und seine speziell geschulten Lehrer lagen in ständigem Streit. Nach einem besonders hässlichen IEP im Januar 2009 zogen wir die Notbremse. Das Jahr beendeten wir mit Hausunterricht, und in drei Monaten machte er größere Fortschritte als in drei Jahren an einer traditionellen öffentlichen Schule. Einen weiteren Monat oder so setzten wir die Medikation fort, setzten die Mittel dann aber ab.“
• (#23): „Mein kleiner Bruder begann die ADHS-Medikation mit 7 Jahren, da er sich in der Schule und bei seinem Kampfkunsttraining nicht gut konzentrieren konnte. Ich sah, wie sich seine Persönlichkeit mit den Medikamenten schlagartig veränderte; er wirkte kraftlos, aber er ließ sich in den schulischen Alltag besser integrieren. Als er 15 war, setzte er von sich aus die Medikamente ab, und erst da machte er sich klar, dass er als Ergebnis der Medikation jahrelang unter paranoiden Wahnvorstellungen gelitten hatte, über die er dann zu sprechen begann. Als Zehnjähriger fürchtete er bei jedem Duschen, dass Terroristen das Wasser verseucht haben könnten. Unter Medikamenteneinfluss unterbrach er den Unterricht weniger häufig, aber wirklich glänzend war er nicht bis auf die beiden letzten Jahren an der Highschool , die er an einer Privatschule verbrachte, die sich an das Sudbury-Valley-Modell anlehnte. Heute ist er ein begabter Musiker, besucht das College und hat keine Probleme mit Wahnvorstellungen und Paranoia gehabt. Er hasst die Medikamente, die er hat nehmen müssen und spürt noch heute die Wut in sich.”
• (#7) „Er war achteinhalb, als ihm Aufmerksamsein und Lernen schwer fielen, so dass wir uns zu einem Versuch mit Adderall entschlossen… Mit zehn und noch unter Adderall entwickelte er eine starke Depression, woraufhin er weitere Medikamente bekam. Bei jedem schien es ihm für wenige Monate gutzugehen und danach wieder schlechter. Wenn ein Mittel zu Nebenwirkungen führte, bekam er als Ausgleich ein weiteres… Das Adderall führte zu einem Mangel an B12, das wir ihm injizieren mussten, weil er Zwangsneurosen entwickelte. … Dann, nach dem Umstellen seiner Ernährung und dem Entsorgen von Haushaltsgiften, entwöhnten wir ihn vom Adderall. Seine Aufmerksamkeit oder Aktivitäten blieben unverändert. Es ging und geht ihm gut. Er bekommt weiterhin Hausunterricht. … Es war einfach das Beste, was wir für unser Kind haben tun können. Heute ist er 16 und plant, aufs College zu gehen.”
• (#22) „Bis zur vierten Klasse, diesmal in einer Privatschule mit erweitertem Lehrplan, äußerten ihre sieben Lehrer den WUNSCH, dass sie getestet würde. Für einige Monate probierten wir es mit Ritalin, aber im Ergebnis verwandelte sie sich tagsüber in einen folgsamen Zombie, der nachts im Streben nach Wissen umso härter arbeiten wollte. Im Frühjahr bat die Schule um ein Treffen; wir erhielten unsere Anzahlung für das kommende Jahr zurück. … Übereinstimmend hieß ich, dass unsere Tochter ein Problem für die gesamte Klasse sei, da sie alles könne, nur nicht zuhören.” [Der Bericht beschreibt im Weiteren den Erfolg des Hausunterrichts ohne Medikamente, und die Tatsache, dass ein College die Tochter für ein vierjähriges Studium angenommen habe.]
• (#1) „Und nun, da wir zu Hause unterrichten und er beim Lernen, in der Gesellschaft und in seinem Verhalten aufblüht, ist Medikation nichts, um das wir uns länger Gedanken machen müssten. Vom Hausunterricht sind wir begeistert – er hat unser Leben zum Besseren gewendet; wir haben unseren Sohn zurückgewonnen.“
• (#2) einen Jungen betreffend, der in der dritten und vierten Klasse in einer öffentlichen Schule unter verschiedenen Medikamenten stand und der zuvor ohne solche zu Hause unterrichtet worden war): „Wir nahmen ihn aus der Schule und unterrichteten ihn wieder zu Hause. Ich setzte ihn von allen Medikamenten ab, um von Grund auf neu an seinem Verhalten zu arbeiten. Sein Zustand besserte sich derart schnell, dass ich die Rx-Medikation seitdem nicht wieder aufgenommen habe.”
• (#14) „Mit fünf Jahren etwa wurde bei mir ADHS festgestellt. Ich wurde auf Ritalin gesetzt und blieb bis elf dabei. Nach Absetzen des Mittels stellten meine Eltern fest, dass ich seltener wütend und allgemein zufriedener war mit dem, was um ich herum geschah, und auch weniger anfällig für Wutausbrüche. Am Ende der 5. Klasse trafen meine Eltern die Entscheidung, mich zu Hause zu unterrichten. Hausunterricht hatte ich – ohne Medikamente – vom 6. bis zum 10. Jahr und in dieser Zeit machte ich Fortschritte in Mathe und schnitt in allen Prüfungen mit Bestnoten ab. Ich konnte meine Lernmethode selbst bestimmen, herumzappeln, wenn mir danach war. … Dann, ab dem 11. Unterrichtsjahr, wurde ich für einige, jedoch nicht alle Kurse an eine Schule zurückgeschickt. … Mir wurde dann eine neue Form von Ritalin verabreicht. Wir probierten es für einen Monat und als eine der Nebenwirkungen bekam ich starke Depressionen. Einen Monat später wurde es abgesetzt und war seitdem kein Thema mehr … Heute bin ich 24, verheiratet und werdender Vater. Im Anschluss an mein letztes Schuljahr ging ich aufs College … und trat der Garde bei. Ich habe festgestellt, dass ich in meinem Alltag jetzt meist ruhiger bin. Noch immer spüre ich einen Trieb in mir, … nichts Schlimmes, ich meine, es drängt mich, meine Gedanken mitzuteilen und, wann immer ich kann, meine Meinung auszudrücken. … Insgesamt bin ich glücklich und zufrieden. Ich liebe das Leben, ich liebe meine Frau und meine Familie.”
Im Gegensatz zu diesen Zitaten berichteten jene, die ihr Kind nach Beginn des Hausunterrichts weiterhin unter einem Stimulans gehalten haben, dass das Medikament ihnen sehr geholfen habe. Hier die drei besten unter den positiven Kommentaren zu Gunsten von Medikamenten:
• (#6) „Wir versuchten es mit Concerta, aber er spielte verrückt. Letzten Endes stiegen wir mit großem Erfolg auf Strattera um . Jetzt bleibt ihm die Zeit, kurz darüber nachzudenken, was er gerade vorhat, und er trifft bessere Entscheidungen. Keine Wutanfälle mehr, kein Umsichwerfen von Gegenständen, kein Schlagen oder rücksichtsloses Verhalten.“
• (#10) „Ohne Medikamente ist sie unaufmerksam, streitsüchtig und zu jedem unfreundlich. Unter Medikamenten ist sie produktiv, lustig und freundlich. Allerdings hat sie als Nebenwirkung kaum Appetit; wir müssen uns also einiges einfallen lassen, damit sie sich ausreichend ernährt. Das ist jedoch kein Problem, und wir sind sehr froh über ihre Fortschritte im sozialen Verhalten und Lernen in den drei Jahren Hausunterricht.“
• (#27) „Als das Medikament [Focalin XR-ein Stimulans] anschlug, änderte sich alles. Nicht nur eignete er sich eine gute Auffassunggabe an, das Gelernte haftete auch länger in seinem Gedächtnis. Drei Jahre Mathe schaffte er mit Leichtigkeit in einem halben Jahr. Im Herbst geht er auf die Highschool, mit Leistungspunkten für über 20 Stunden in der Tasche und Auszeichnungen in Naturwissenschaften auf Hochschulniveau [Von seinen Jahren im Hausunterricht]. Aus ihm wird jenes intelligente Kind, das ich vor den Medikamenten immer nur für winzige Augenblicke in ihm sah.”
Schlussfolgerung 2: Das Verhalten, die Launen und das Lernen besserten sich allgemein mit dem Abschied vom herkömmlichen Schulsystem, nicht weil sich die ADHS-Symptome auflösten, sondern weil sich die Kinder jetzt in einer Situation befanden, in der sie lernen konnten, mit den Symptomen umzugehen.
Nur zwei oder drei der Befragten berichteten, dass das ADHS-typische Verhalten nach dem Abschied von einer herkömmlichen Schule verschwand. Die große Mehrheit gab mehr oder weniger direkt zu verstehen, dass solche Merkmale blieben, aber nicht länger solch ein großes Problem darstellten, in erster Linie weil das Kind, von der Schule genommen, aktiv und selbstbestimmend sein konnte, ohne zu stören, und Gelegenheiten fand, mit den Besonderheiten seines Charakters umzugehen. Hier sind einige diesbezügliche Zitate.
• (#16) „Solange er körperlich aktiv bleiben kann, lernt er gut. Ich habe den Eindruck, dass der Fokus im Massenbetrieb Schule noch immer darauf ausgerichtet wäre, ihn zum Stillsitzen zu bringen. So wie es aussieht, würde er in die 8. Klasse der örtlichen Gemeindeschule kommen, aber er bewältigt den Stoff eines Zehntklässlers und hat sogar einige AP -Leistungspunkte. Deutsch und Latein bringt er sich aus eigenem Antrieb bei. Ich habe kein Interesse daran, ihm die Freude am Lernen zu nehmen, nur damit er stillsitzt! … Er fügt sich gut in die Gemeinschaft ein und benimmt sich entsprechend. Wenn er jedoch mit anderen ADHS-Kindern zusammen ist, fällt uns auf, dass sie untereinander schnell das Verhalten der anderen kopieren.”
• (#17) „Trotz ihres Bewegungsdrangs ist sie eine sehr gute Schülerin. Manchmal fürchtet sie, „zurückzufallen”, und dann findet sie in Websites und Büchern Hinweise auf empfohlenes Wissen, das sie geradezu verschlingt. Vor drei Jahren las sie den Stoff der 8. Klasse, da war sie erst in der dritten. Sie liegt also jetzt irgendwo auf Highschool-Niveau. … Ihr Verhalten ist normalerweise ausgezeichnet. Manchmal ist sie unvermittelt überschwänglich und ausgelassen; diese Ausbrüche können unbedacht sein und schwer zu bremsen. So läuft sie zum Beispiel spät abends schreiend durchs Haus.”
• (#18) „Ich meine, der wirkliche Vorteil des Hausunterrichts lag in der Entwicklung des sozialen Verhaltens meines Sohnes. Er ist von Grund auf nett, sowohl freundlich als auch mitfühlend. Ich verstehe einfach nicht, wie er in einer Schule, in der er den ganzen Tag den Eindruck haben musste, unerwünscht zu sein, den Gemeinschaftssinn ebenso hätte erlernen können.”
• (#12), über einen Jungen, dessen Diagnose mit 5 Jahren wie folgt lautete: ADHS und Störungen der sensorischen Integration und der tiefgreifenden Entwicklung. Kurz danach begann sein Hausunterricht): „Heute, mit fast 16, ist er ein wortgewandter, offener und selbstsicherer junger Mann. Er nimmt keine Medikamente … benimmt sich nicht eigenartig … und beeindruckt jeden Erwachsenen, dem er begegnet. … Seine Art zu lernen, lässt sich in keinster Weise mit den Zwängen eines Klassenzimmers vereinbaren. Fast intuitiv weiß er, wie Autos, Klimaanlagen und dergleichen zu reparieren sind …” (Diese Mutter beschreibt im Weiteren die Vorbereitungen ihres Sohnes auf seinen beruflichen Werdegang durch Praktika in einem Antiquitätengeschäft und das auf eine Weise, die ihm die Schule nicht ermöglicht hätte.
• (#13) „Seine Ängste hat er seit dem Abschied von einer öffentlichen Schule und dem Beginn des Hausunterrichts abgelegt. In Bezug auf den Unterricht fällt ihm es sehr schwer, eine Arbeit fertigzustellen. Er lässt sich wirklich leicht ablenken. … Noch ist er impulsiv und abfordernd, aber wir können damit besser umgehen, als die Schule es konnte, und wir haben weniger Stress dabei. An einigen Kursen nimmt er in Ortsgruppen und am Museum teil und noch fällt es ihm schwer, dem Unterricht zu folgen, aber er wird damit fertig, weil er sich dieser Situation nicht mehr tagtäglich stellen muss.
• (#20) „Wie ich erwähnte, sind die Freundschaften meines Sohnes recht unbeständig. Er ist gerne mit seinen Freunden zusammen, aber mit seiner Neigung „auszurasten” oder „aufzudrehen” macht er sich selbst das Leben schwer, indem er sich oft mit seinen Freunden verkracht. Außerhalb der Schule kann er weggehen, nach Hause kommen, über die Situation nachdenken, sich aussprechen und sich nicht in einer Abwärtsspirale aus Wut und Ärger verfangen. Er lernt das Leben kennen, grundlegende Fertigkeiten und vor allem ein glücklicher und erfüllter Erwachsener zu sein.”
• (#24) „… ihre Jahre an einer öffentlichen K-3-Schule waren überwiegend eine Katastrophe.. . . Auf wiederholte Anregung durch den Förderlehrer gingen wir mit ihr im 3. Schuljahr zu einem Psychologen und kamen mit der Diagnose ADHS und einer Verschreibung für Metadate zurück. Wir versuchten es circa eine Woche, und als Ergebnis zeigte sich eine bemerkenswerte Besserung in Bereichen wie dem Kurzzeitgedächtnis, zum Beispiel in einem Test von 0/10 auf 5/10. Nichtsdestotrotz konnten wir uns nicht dazu durchringen, die Medikation fortzuführen: Unsere Tochter blieb bis spät in die Nacht wach, ihr Blick war ausdrucksleer, an ihren Schenkeln bildete sich ein kleiner Ausschlag usw. … Stattdessen brachten wir sie in der 4. Klasse einer kleinen, alternativen Privatschule für die Klassen K-7/8 unter. In der Klasse sind an die 14 oder 15 Kinder, und sie ist wie eine große Familie mit Hausunterricht. … Unsere Tochter aus der öffentlichen Schule zu nehmen, war die beste Entscheidung, die wir haben treffen können. … Und für uns als Eltern: Bevor wir uns für eine alternative Bildung entschieden, hatten wir den Eindruck, kein Kind großzuziehen, sondern eher eine Menge Probleme, die dringend auf ihre Lösung wartete. Das ist zum Glück vorbei.”
• (#28). „Wir begannen mit dem Hausunterricht im Kindergarten. Es war eine Katastrophe. Täglich für eine Lektion 10 Minuten still zu sitzen war wie Zähneziehen. Sie weinte und schrie, dass sie die Schule hasse. „Hasst du Geschichten?” Nein. „Hasst du Spiele?” Nein. „Was hasst du dann?” STILLLLL sitzen! (Wimmern). Ich blieb beharrlich während der Kindergartenzeit, aber ich sah nach einem Jahr keinerlei Fortschritte. Für die 1. Klasse änderte ich ein klein wenig meine Methode und ließ sie beispielsweise mit Legos spielen, kritzeln oder „nähen”, während wir lasen. Ein wenig half es. … Bis zur 2. Klasse hatte ich aufgegeben. … Unsere Tochter würde nicht lesen lernen. … Dann eines Tages kam ich herein, und sie las gerade „Die Chroniken von Narnia”. Es hatte soeben Klick gemacht, so im Alter von 8 Jahren. … Ihre Schreibfehler sind noch immer grauenhaft. Und in Gruppen kann sie sich immer noch wie eine Wilde aufführen—sie ist so reizbar und pathetisch und erschreckt manchmal andere Kinder ein wenig. … Als ich ihr Verhalten immer besser verstand, fand ich es mehr und mehr seltsam, dass wir diese Kinder als „lernbehindert” brandmarken. Ihr fallen Dinge leicht, mit denen andere Kinder Schwierigkeiten haben—Textaufgaben in Mathe, Erkennen von umfangreichen, komplexen Problemlösungen, ein eigenes Verständnis zu einem gelesenen Buch. Dinge, die schwer zu VERMITTELN sind. Und sie müht sich mit Dingen ab, für die es so einfache Lösungen gibt…. Taschenrechner und Rechtschreibprüfung zum Beispiel.”
Schlussfolgerung 3: Viele dieser Kinder scheinen einen sehr hohen Bedarf an Bildung in Eigenregie zu haben, und viele vergessen bei interessanten Aufgaben alles um sich herum.
Ein Mitarbeiter, der an einer der Sudbury-Modell-Schulen arbeitet, schrieb mir in einer E-Mail diesen interessanten Kommentar über Kinder, bei denen vor Einschulung ADHS erkannt worden war:
„Das Etikett ADHS haftet zwei sehr unterschiedlichen Gruppen von Kindern an. Die eine Gruppe hat wirklich ein „Aufmerksamkeitsdefizit”. Die meisten von ihnen können sich in genau das, was sie tun wollen, sehr vertiefen… Sie gehen ihren Neigungen nach—mit anderen Kindern, falls diese ihre Interessen teilen, und allein, wenn sie von etwas gefesselt sind, für das sich andere Kinder nicht interessieren. Das Schild ADHS bekommen sie nicht deshalb umgehängt, weil sie nicht mitmachen können, sondern weil sie keinen Mechanismus zur Bewältigung aufgezwungener Langeweile haben… Die andere Gruppe ist einfach körperlich aktiv bis zu jenem problematischen Punkt, an dem Ruhe gefordert wird. Da diese Kinder keine Kontrolle über sich haben, sorgen sie generell mit häufigen Klassenbucheintragungen für lautstarkes Tollen und Toben selbst dafür, dass sie von dem Rechtsausschuss oder der Schulkonferenz von der Schule verwiesen werden. Eine Kombination aus Geduld (Die Mehrzahl dieser Kinder kann draußen die meiste Zeit nach Herzenslust tollen und toben, ohne dass sich jemand gestört fühlt) und Fairness lässt dieses Problem für uns kleiner werden. Die Geduld besteht darin, nicht übermäßig zur Ordnung zu rufen, und die Fairness, den Kindern durch einen gerechten und verständnigen Rechtsausschuss ein Gespür für die rechte Zeit und den rechten Ort zu vermitteln. Auf diese Weise können die Kindern die Fähigkeit entwickeln, herunterzuschalten, wenn Stille und Ruhe gefordert werden.”
In der Auswahl an Berichten, die ich erhielt, scheinen viele Kinder klar der ersten Kategorie anzugehören. Sie scheinen Kinder zu sein, die einen noch größeren Bedarf an selbstbestimmtem Lernen haben als durchschnittliche Kinder. (Falls Sie meinen Blog regelmäßig lesen, kennen Sie meine Ansicht, dass alle normalen Kindern besser in Umgebungen lernen, in denen sie ihr Lernen selbst bestimmen können im Gegensatz zu Umgebungen, in denen sie fremdbestimmt werden.) In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass die wenigen Kinder in dieser Umfrage, die während des Hausunterrichts noch immer ADHS-Medikamente bekamen, in erster Linie jene zu sein schienen, deren Unterricht von den Eltern nach dem Vorbild herkömmlicher Schulen gegliedert und gestaltet war.
Eine Anzahl der von mir bereits vorgestellten Zitate weisen auf das Bedürfnis eines ADHS-Kindes hin, die Art seines Lernens selbst zu bestimmen. Hier noch ein paar:
• (#3) „Sie entscheidet sich täglich für ihre eigenen Themen und das Lernmaterial. … Sie lernt viel besser, wenn sie ihre Interessen verfolgen und sich dann extrem in diese vertiefen kann. Sie mag sich jeden Tag etwas anderem zuwenden, das scheinbar in keinem Zusammenhang steht, und dann dieses wahllos herausgegriffene Thema in ein großes Projekt einbinden, mit dem sie einen Monat lang beschäftigt ist.“
• (#5) „Es hat wohl mit der Motivation zu tun. Falls ein Thema ihn fesselt, ist er für einen langen Zeitraum konzentriert und aufmerksam, falls nicht, wird er ungeduldig. Beispielsweise führte ein Robotikclub auf unserer örtlichen Hausunterrichtsversammlung einen Roboter vor. Falls ich meinen Sohn nicht mitgezogen hätte, würde er den Rest des Nachmittages damit zugebracht haben, Fragen über den Roboter zu stellen.”
• (#19) „Wir betreiben das Unschooling jetzt seit etlichen Jahren. Er ist 11 …. Bisweilen ist er voller Energie und ungestüm, aber manchmal begegnet er etwas Interessantem, von dem er schier endlos gefesselt ist. Nur wenn ihn etwas langweilt oder er desinteressiert ist, entspricht er dem Bild eines ADHS-Kindes. Oder er wird besonders wild, wenn er lange gesessen hat, wobei es keine Rolle spielt, ob er dabei konzentriert oder gelangweilt war.”
• (#20) „Nach einer Weile elterngeführtem Hausunterrichts wurde ihm Lernen unmöglich. Seine Ängste steigerten sich bis zu einem Grad, bei dem wir gezwungen waren, ihm für einige Monate die Einnahme von angstlösenden Mitteln zu erlauben…. Dann stieß ich zufällig auf das selbstbestimmte Lernen/Unschooling und habe seitdem nicht zurückgeblickt! … Es leuchtete alles so ein. Mein Sohn wählt den von ihm gewünschten Lernstoff aus und trifft seine eigenen Entscheidungen, wann und wie er diesen lernen wird. Er hat gelernt, sich Grenzen zu setzen und übernimmt die Verantwortung für sein Lernen. Falls er sich für etwas interessiert, machen wir es ihm einfach und stellen die Ressourcen bereit, die Kontakte, führen ihn an Orte, an denen er das nötige Material bekommt. Er hat großes Interesse an Musikinformatik. … Er hat einige bezaubernde Stücke komponiert, er hat zahlreiche Themen gefunden, für die er sich interessiert; er hat selbstgesteckte Interessen, die er ohne Bildungseinrichtungen verfolgen kann. Er ist klug und weiß besser als wir, welchen Neigungen er nachgehen sollte. Letztes Jahr, als alles so trostlos und traumatisch verlief, hätte ich niemals geglaubt, dass alles ein Jahr später so rosig und so absolut faszinierend aussehen würde, indem wir einfach dem Rat folgten, einem Kind die Freiheit der eigenen Entscheidung zu lassen.”
• (#22) „Sich in unserem Hausunterricht an einen festen Lehrplan zu halten, war ihr verhasst. Ihr ganzes Interesse galt dem Geschichtsbuch, das sie durcharbeiten wollte. . . Stück für Stück das Wissen unter Vorgabe des Lehrplans zu extrahieren, ärgerte sie. Wir schwenkten auf Unschooling um und alles ergab sich von allein. … Das „Problem” ist, dass sie wissbegierig ist, ihr Lerntempo bestimmen will (schnell), einige Themen ausklammert, während sie andere verfolgt und sich eingehend mit Interessen befasst, die niemand ihres Alters teilt.”
• (#21) „Mit Unschooling begannen wir vor etwa vier Jahren. … Heute ist sie 14,5… Sie ist kreativ, verantwortungsbewusst, freut sich an allem. Lesen fällt ihr leicht und sie ist darauf trainiert, Mathe im Alltag anzuwenden. … Sie zeigt keinerlei Anzeichen von Problemen, die der Schulbezirk in ihr sah, als sie neun Jahre alt war. // Sie war in einer großen, chaotischen Klasse mit etlichen Kindern, die Einzelbetreuung benötigten. Der Bezirk war im ersten Jahr der Einführung von Everyday Math (Rechnen im Alltag – oder Weinen im Alltag, wie ich es nannte) und die Bücher, die die Kinder zu lesen bekamen, waren in meinen Augen langweilig. Vor Prüfungen hatte sie Angst, und die Reizüberflutung aus Lärm und Gerüchen an der Schule, vor allem in der Caféteria, überforderte sie. // Seit sie zu Hause lernt, blüht sie auf. Menschen, die sie kennen, glauben kaum, dass jemals irgendjemand ihre Intelligenz oder Konzentrationsfähigkeit angezweifelt hat. Sie ist klüger und verantwortungsbewusster als viele Erwachsene, die ich kenne.”
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Bevor ich zum Ende komme, sollte ich sagen, dass dies ganz klar nur eine Vorstudie ist. Sie ist jedoch, soweit ich sagen kann, die einzige Studie, die bis heute jemand in Bezug auf die Fähigkeiten von Kindern, trotz ADHS zu lernen und ohne Medikamente abseits des herkömmlichen Schulsystems fertig zu werden, durchgeführt wurde. . Meine Hoffnung liegt darin, dass diese Vorstudie die Aufmerksamkeit der Forschungsgemeinde auf sich lenken wird, so dass formellere, breit angelegte Untersuchungen folgen werden. In unserer Kultur haben wir uns so daran gewöhnt, Schule als die normative Bildungseinrichtung für Kinder anzusehen, dass wir selten einmal an die Möglichkeit denken, dass Kinder außerhalb dieses Umfelds lernen und sich gut entwickeln können. Ich bin allen sehr dankbar, die auf meinen Aufruf nach Berichten reagierten und sich die Zeit genommen haben, die Erfahrungen ihres Sohnes oder ihrer Tochter mit ADHS so eingehend zu beschreiben.
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Hinweise
[1] Für Beispiele siehe Mayes et al (2009), Medicating Children: ADHD and Pediatric Mental Health (Harvard University Press).
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Dr. Peter Gray, Professor am Boston College, ist Autor des neu erschienenen Buches Free to Learn (Basic Books, 2013) und Pyschology (Worth Publishers, Lehrbuch 6. Aufl.)
Weitere Artikel von Peter Gray in Englisch:
www.psychologytoday.com/blog/freedom-learn
„Free to Learn“ Buch in Englisch:
www.freetolearnbook.com
Englischer Originalartikel: www.psychologytoday.com/blog/freedom-learn/201009/experiences-adhd-labeled-kids-who-switch-conventional-schooling-homeschool
Übersetzung ins Deutsche von Rainer Lechtenbörger für die PerMondo Initiative, geleitet von Mondo Agit.
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